Papieribahn
Die Papierfabrik Cham verfügte ab 1920 einen direkten Gleisanschluss zum Bahnhof Cham. Das einst «Marie» getaufte Papieribähnli durchquerte den Ort, quietschte ohrenbetäubend durch die Kurven und stoppte den Verkehr auf der Zugerstrasse. Dennoch hielt sich die Bahn bis 2014. Denn die Anbindung an den öffentlichen Verkehr war wichtig. Pro Jahr verfrachtete die fabrikeigene Bahn rund 80’000 Tonnen Material.
Chronologie
1902/1906 Die Papierfabrik Cham prüft die Erstellung eines eigenen Industriegleises – ohne es zu realisieren.
1911 Der Plan eines Industriegeleises für die Papierfabrik mittels Anschluss an das Geleise der Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company scheitert, da die Geleise der Milchfabrik ausgelastet sind. Die Papierfabrik würde einen autonomen Bahnanschluss bevorzugen. Man befürchtet wirtschaftliche Einschränkungen, wenn man von Durchfahrtsrechten der Michsüüdi abhängig ist. [1]
1917
Während des Ersten Weltkriegs plant die Papierfabrik, eine Bahnverbindung durch den Städtlerwald zum Bahnhof Steinhausen zu bauen. Im Protokoll des Verwaltungsrats ist festgehalten:
 
«Über das projektierte Industriegeleise mit Anschluss an die Station Steinhausen, liegen provisorische Pläne vor. (…) Herr R. Naville macht darauf aufmerksam, dass der seinerzeit in Aussicht genommene Anschluss an das Geleise der Milchfabrik Cham nicht mehr in Frage kommen könne, weil schon zu stark belastet, abgesehen von den Unzukömmlichkeiten betreffend Durchfahrtskontrolle und Verrechnung. Etwas Definitives liegt heute noch nicht vor, da seitens einiger Landbesitzer immer noch Schwierigkeiten gemacht werden. Die nötigen Schienen wurden, um sich solche rechtzeitig zu sichern, gekauft und liegen auf der Station Steinhausen. (…) Das Projekt werde von der Geschäftsleitung weiter verfolgt.» [2]
Die Papierfabrik kauft einen ersten Lastwagen, einen Laster der Marke Franz mit einem Gewicht von fünf Tonnen. [3]
In der Sitzung vom 18. Dezember bewilligt der Verwaltungsrat den Kauf einer Kiesgrube im «Wylerboden» neben dem Äbnetwald für 4500 Franken, mit der Begründung: «Die immer schwieriger werdende Kiesbeschaffung legte schon mit Rücksicht auf die früher oder später kommende Erstellung der Geleiseanlage die Frage der Selbstausbeutung einer Kiesgrube nahe.» [4]
1917/1918 Im Geschäftsbericht ist festgehalten, dass die Kohlen- und Benzinpreise sehr hoch seien. Zudem seien die bei der Fabrik Tribelhorn bestellten zwei Elektro-Traktoren noch nicht geliefert worden. Der grosse jetzige Verkehr sei nur äusserst schwer per Fuhrwerk zu bewältigen, ein Anschlussgeleise sei deshalb dringend nötig, wenn die Fabrik konkurrenzfähig bleiben soll. Robert Naville bedauert, dass das Geld, welches für das Lastauto und die beiden Traktoren aufgeworfen werden musste, nicht bereits für die Geleiseanlage Verwendung fand. [5]
1918
Die Kosten für den Bahnanschluss nach Steinhausen stellen sich als mehr als doppelt so hoch heraus als angenommen.
Am 23. Juni stellt die Papierfabrik zum zweiten Mal eine offizielle Anfrage an die Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company für den Anschluss an das bestehende Nestlé-Geleise.
Vier Tage später will die Nestlé mit einem vom Delegierten des Verwaltungsrats Fred H. Page unterschriebenen Brief wissen, wie gross der erwartete Bahnverkehr wäre.
Am 12. August schickt die Papierfabrik eine Projektskizze der Geleiseanlage mit Anschluss bei der Nestlé-Kistenfabrik mit Übergang über die Knonauerstrasse an die Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company.
Am 6. Dezember kann die Papierfabrik die Zahlen über den zu erwartenden Verkehr liefern: Jährlich 3000 volle Wagen von der Station Cham zur Fabrik und 800 Wagen von der Fabrik zur Station, mit einem Monatsmaximum im Februar-März von 650 Wagen pro Richtung. 
Die Papierfabrik verhandlelt mit J. Boog zur Loebern und Caspar Baumgartner-Hausheer, Lorzenhof, über Landverkäufe zur Erstellung des Bahnanschlusses. [6]
1919
Im Januar werden die Verträge zum Landkauf unterschrieben. Josef Boog tritt für 59'500 Franken 8500 Quadratmeter Land ab, davon werden 3500 Quadratmeter unmittelbar für den Geleisebau benötigt.
 
Am 13. Februar schliesst die Papierfabrik mit der Maschinenfabrik Oerlikon MFO den Kaufvertrag für eine Akkumulatorenlok mit ganz ähnlicher Bauweise wie die Nestlé-Lok samt Ladestation für 182'000 Franken ab.
Am 20. März übermittelt die für den Geleisebau verantwortliche Firma Locher den Situationsplan und das Längenprofil an die Kreisdirektion III der SBB zur Vorprüfung.  Am 27. Mai erfolgt die Genehmigung mit einigen Vorbehalten.
Am 1. Juli wird ein neunseitiger Anschluss- und Benützungsvertrag zwischen der Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company und der Papierfabrik unterzeichnet. Die Benützungskosten setzten sich aus einem Landzinsbeitrag von jährlich 1500 Franken, einem zwölf Jahre lang zu entrichtenden «Geleisekosten-Beitrag» von jährlich 5547 Franken und einem «Unterhalt-Kosten-Beitrag» gemäss anfallenden Kosten zusammen. Festgelegt wird auch, «dass jeder der beiden Vertragspartner seinen Verkehr mit eigener Lokomotive und eigenem Rohmaterial und eigenem Personal durchführt». [7]
1920
Nach diversen Einwänden seitens der SBB wird das Industriegeleise der Papierfabrik am 16. Februar abgenommen. [8]
Am 9. März 1920 rollt offiziell der erste Zug von der Papierfabrik zur Station Cham.
Im Führerstand der Jungfernfahrt der Papieribahn steht Josef Jäck (1894–1980). 
Die Zugskomposition wird gezogen von einer Lokomotive mit Elektro-Akkumulatoren, die zwei 75-PS-Motoren antreiben. Die Maximalgeschwindigkeit beträgt beschauliche 17 Kilometer pro Stunde. Die Bahnstrecke von insgesamt vier Kilometern (inklusive Geleise innerhalb der Fabrikanlage) überquert zwei Kantonsstrassen und eine Gemeindestrasse, auf denen der Verkehr kurz gestoppt wird. Die Zugmaschine ist für zwölf ankommende und zwölf abgehende Güterwagen pro Tag ausgelegt. [9]
Insgesamt kostet die Anlage samt Land, Lokomotive und Lokremise 695'000 Franken, davon für die Geleiseanlage 390'000 Franken. [10]
Das Transportvolumen steigt in der Folge von Jahr zu Jahr bis zu rund 80'000 Tonnen pro Jahr.
1928 Die Papierfabrik erstellt eine Lokremise auf dem Fabrikgelände. [11]
1932 Die Generaldirektion Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company in Vevey beschliesst, die Fabrikationsanlage in Cham zu schliessen, «weil diese nicht mehr mit Milch versorgt werden könne, die Konkurrenzpreisen entspreche». [12] Ende Oktober wird im Werk Cham die letzte Kondensmilch hergestellt. [13] Damit wird das Geleise fortan vor allem von der Papierfabrik genutzt.
1952 Weil die Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company die Fabrikation in Cham schon länger gestoppt hat, verkauft sie alle Geleise der Papierfabrik.
1962 Weil die Elektrolokomotive revidiert werden muss, leiht sich die Papierfabrik zuweilen eine Dampflokomotive der Papierfabrik Perlen aus (oder sie setzt jeweils auf eine Ersatzlokomotive des Typs «B-Tender»). Zustatten kommt der Papierfabrik in solchen Momenten, dass Lokführer Walter Lindegger (1929–2012) Erfahrung hat mit Dampfbetrieb, nämlich seinerzeit mit dem Betreiben von Schnapsbrennereien. [14]
1994 Die Firma Metrag AG baut der Lok eine Luftbremsanlage ein, um die angehängten Eisenbahnwagen zu bremsen. Gearbeitet wird nur nachts, damit die Lok tagsüber in Betrieb sein konnte.
2009 Die Lok erleidet am 9. März einen Achsbruch und entgleist. Zwei Tage später wird sie auf einen Tieflader gehievt und zur Reparatur abtransportiert. [15]
2012 Die Feuerwehr Cham löscht am 10. Januar einen Brand im Papieribähnli. [16]
2014 Das Papieribähnli fährt das letzte Mal durch Cham. Die Papierfabrik schenkt die Lokomotive, die seit 1920 ununterbrochen im Einsatz gewesen ist, der Museumsbahn Etzwilen-Singen in der Ostschweiz. Diese ist jedoch mit dem Betrieb und Unterhalt der anspruchsvollen Akku-Lok überfordert. Die Firma Stauffer Schienen- und Spezialfahrzeuge, Frauenfeld, übernimmt die Lok und macht sie flott. Die ehemalige Papier-Lok bleibt in Frauenfeld, wo sie als Werklok des Unternehmens dient. [17]
2017 Das Papieribähnli steht nach wie vor bei der Firma Stauffer Schienen- und Spezialfahrzeuge in Frauenfeld. Diese bietet «Marie» zur Miete (für 6000 Franken pro Monat) oder zum Kauf an (für 85'000 Franken, exkl. Mwst., aber inklusive Transportkosten) [18]
2018 Die Einwohnergemeinde plant einen «Velo- und Fussgänger-Highway» auf dem ehemaligen Trassee des Papieribähnlis. Der neue Weg für den Langsamverkehr soll die Naherholungsgebiete am Zugersee mit dem nach Norden erweiterten Ortszentrum verbinden. Er soll beim Gasometer in der Nestléstrasse beginnen, das Neudorfzentrum östlich umfahren und beim Papieriareal enden. [19]
2021 Die Ta 2/2 «Marie» bekommt ein neues Zuhause und einen neuen Verwendungszweck: Der gemeinnützige Verein Eurovapor übernimmt von der Firma Stauffer die Lok. [20] Am 12. Juni wird sie nach Sulgen TG gefahren, wo sie als Ersatz für den Rangiertraktor Tm 2/2 9 zum Einsatz kommt. «Marie» wird in Sulgen Rangierdienste übernehmen und in der von der Bischofszellerbahn erbauten Lokremise im Bahnhof Sulgen untergebracht.
Im Dezember wird der rund 600 Meter lange «Papierigleisweg» eröffnet. [21]
2022 Am 3. September ist «Marie» (in Form einer Kulisse) der Star auf dem Chamer Festplatz auf der Rössliwiese beim «ZugFäscht» in der Stadt Zug, das von rund 45'000 Personen besucht wird. [22]
«Mitte März 1919 wurde mit dem Bau begonnen und am 8. März 1920 der Betrieb aufgenommen. Die Vollendung der Lokomotivremise fällt allerdings in das neue Jahr. Das langersehnte x-mal projectierte und immer wieder verschobene Werk ist nun vollendet. Wenn wir uns schon sagen müssen, dass die Kosten durch den späten Bau viel höher geworden sind, so ist doch zu bemerken, dass früher wohl kaum hätte so zweckmässig gebaut werden können, da man über den neuen Ausbau der Fabrik noch nicht im Klaren war. Wir hoffen nun, allen modernen Ansprüchen und allen Anforderungen, welche der Betrieb an das Geleise stellen wird, gerecht geworden zu sein. Bis heute war denn auch der Betrieb sehr befriedigend.» [23]
Die Linienführung zu den Bahnhöfen Cham oder Steinhausen im Vergleich
Die «Variante 2» führte mit einer Gesamtlänge von 2.5 Kilometern über den Städtlerwald zur Station Steinhausen. Im Vergleich zum Anschliessen an das bestehende Geleise der Nestlé bei der Knonauerstrasse wäre diese «Variante 2» mit einer Gesamtlänge von 2.5 Kilometer, mit zwei Steigungen von 35 und 40 Promille, fünf Strassenquerungen, zwei Bachüberquerungen, drei Einschnitten und zwei Dämmen wesentlich aufwendiger gewesen. Zudem wären viele Landbesitzer betroffen gewesen, die teilweise nicht verkaufen wollten.[24]
Technische Daten
- Geschwindigkeit: max. 17 km/h
 - Motorenleistung: 2 x 75 PS
 - Akkumulator mit 240 Batterieelementen (17 Tonnen)
 - Gesamtgewicht: 33.5 Tonnen
 - Radstand: 4.5 Meter
 - Länge über Puffer: 8,94 Meter
 - Breite: 3,06 Meter
 
Personen
Fotogalerie
Die Transporte des Papieribähnlis in der Ostschweiz
Dokumente
Plan
Plan der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft SIG, Neuhausen SH, 10.05.1919
Zeitungsartikel
«Das hat ‹Marie› nicht verdient», Zuger Zeitung vom 11.11.2017
Filmdokumente
Testfahrt durch Cham
Testfahrt in der Vorweihnachtszeit, 2007, ein Film von Markus Geiger
«Marie» unterwegs in Cham
Kurvenquietschen vor der Papierfabrik, 2011
Die «Marie» unterwegs in Sulgen TG
Das ehemalige Chamer Papieribähnli beim Bahnhof Sulgen, 06.09.2021
«Marie – der Zeit voraus»
Der Film «Marie – der Zeit voraus» ist ein Auftragswerk von Cham Tourismus für das «Zug Fäscht 2022» vom 3. September 2022. Der Film dokumentiert die Eisenbahnlinie von «Marie», wie die Papieribahn auch genannt wird. Er wird von Lukas Schnurrenberger, avp Media-Design, Cham, produziert.
Einzelnachweise
- ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Orsouw, Michael van, Der Zellstoff, auf dem die Träume sind – 350 Jahre «Papieri» Cham, Zug 2007, S. 192
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Hauszeitung Papierfabrik Cham, Nr. 30, 1971, S. 26
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Staatsarchiv Zug, G 617.6.6, Assekuranzregister Cham, 4. Generation (1960–1990), 1. Band
 - ↑ Steiner, Hermann, Seltene Berufe und Menschen im Zugerland, Zug 1984, S. 146
 - ↑ Der Bund, 11.04. 1933
 - ↑ Hauszeitung Papierfabrik Cham AG, Nr. 4, 1962, S. 12f.
 - ↑ Neue Zuger Zeitung, 11.03.2009
 - ↑ Chronik Feuerwehr Cham: http://www.fw-cham.ch [Stand: 10.10.2017]
 - ↑ Freundliche Mitteilung von Jürg Stauffer, Frauenfeld, 10.10.2017
 - ↑ Zuger Zeitung, 11.11.2017
 - ↑ Kluge, Philip, CHAM-Langsamverkehrsachse Papieri Areal, Rapperswil 2017. www.zentralplus.ch [News- und Community-Plattform für Luzern und Zug], 28.06.2018
 - ↑ Freundliche Mitteilung von Hansueli Kneuss, Verein Eurovapor, 02.11.2021
 - ↑ Zuger Zeitung, 07.12.2021
 - ↑ Zuger Zeitung, 04.09.2022
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»
 - ↑ Zuger Zeitung, 22.01.1925, Martin Stuber «Die Papierfabrikgeleise in Cham entstehen spät, aber richtig.»