Kinderarbeitsanstalt Hagendorn

Aus Chamapedia

Die Kinder der Kinderarbeitsanstalt Hagendorn: Auf dem Dach den Jungen, vor dem linken Hausteil die Mädchen ...

Die Weberei und Spinnerei Hagendorn stellte in ihrer Fabrik Kinder an und brachte diese in einem Kinderheim unter. Obwohl die Kinderarbeit 1877 per Gesetz verboten war, blieb die Kinderarbeitsanstalt Hagendorn bis 1888 in Betrieb. Dann wurde nach dem Brand der Fabrik aus der Kinderarbeitsanstalt ein Waisenheim.


Chronologie

1860 Zürcher Industrielle um Robert von Muralt (1829–1906), Spross der Zürcher Seidendynastie, gründen die «Gesellschaft zum Betrieb der Baumwollspinnerei Hagendorn». [1]

1861–1863 Innerhalb von zwei Jahren werden Fabrik, Werkstätten, Scheune und Wohnhaus gebaut. 1863 nimmt die Spinnerei und Weberei Hagendorn nimmt ihren Betrieb auf. [2] 254 Webstühle weist die Fabrik maximal auf und 24'832 Spindeln – mit 370 Arbeitenden ist sie zu dieser Zeit der personalintensivste Betrieb im Kanton Zug. [3]

1863 Kinderarbeit in den Schweizer Textilfabriken ist gang und gäbe. Im früh industrialisierten Neuägeri gibt es seit 1855 eine Kinderarbeitsanstalt. Aufgrund unterschiedlicher Ansichten über die Arbeit der Fabrikkinder kommt es dort Ende 1863 zum Eklat; die «Erziehung- und Arbeitsanstalt am Gubel» in Neuägeri wird geschlossen. Die Hagendorner Spinnerei und Weberei springt in die Lücke. Sie übernimmt die Kinder und bringt diese in einem neu erstellten Gebäude an der Lorzenweidstrasse unter. [4] Die Liegenschaft wird von Obermüller Moritz Baumgartner erbaut: Es handelt sich um einen dreigeschossigen, verputzen Fachwerkbau einfacher Bauart. [5]

1864 An Neujahr kommen die ersten Kinder nach Hagendorn, um in der Spinnerei und Weberei zu arbeiten. Pfarrer Franz Michael Stadlin (1835–1908) nimmt sich der Kinder «mit der ihm eigenen ruhigen Gemessenheit» an und lässt sich in den Vorstand der zuständigen Hilfsgesellschaft wählen. Schwester Clara Schibli vom Kloster Menzingen betreut mit ihren Mitschwestern die Kinder, wenn sie abends aus der Fabrik kommen. Es sind 70 bis 80 Kinder und Jugendliche, die in Hagendorn leben, intern werden sie «Schutzbefohlene» genannt. [6]

Die Hilfsgesellschaft mit Pfarrer Stadlin wacht über die Finanzen. Die Kinder sind zwischen 12 und 20 Jahren alt und gelten in den Worten von Pfarrer Lukas Businger (1832–1910) aus Menzingen als «schul-, kirchen- und arbeitsscheue, von Haus zu Haus, von Hof zu Hof herumbettelnde Knaben und Mädchen». 13 Stunden täglich müssen die Halbwüchsigen in der nahen Fabrik arbeiten. Häufig werden die Kinder für besonders filigrane und auch gefährliche Arbeiten eingesetzt, denn Schutzvorrichtungen an den Maschinen kennt man damals noch nicht. Für kleinste Vergehen setzt es Strafen oder Lohnabzüge ab. Der Taglohn beträgt im Durchschnitt anderthalb Franken. [7]

1869 Der Betrieb der Kinderarbeitsanstalt scheint doch nicht ganz so reibungslos zu verlaufen, wie die Verantwortlichen den Anschein geben. Denn nicht anders ist es zu erklären, dass Alt-Regierungsrat, Bankier und Geschäftsmann Georg Bossard (1813–1872) mit einem Gutachten beauftragt wird. Er liefert einen Bericht auf 36 Seiten ab: «Die Arbeiterfrage. Bericht über die Arbeiter-Anstalt im Hagendorn in Verbindung mit der Spinnerei im Hagendorn in Cham.»

Schon im Vorwort gibt er zu, sich selber «an einer Erziehungs- und Arbeitsanstalt in Verbindung mit einer Fabrik» beteiligt zu haben [8] – es handelt sich also bei dem Bericht um ein Parteigutachten. Er nennt die Anstalt ein «im Namen des Gottes der Liebe, zum Wohle jugendlicher Fabrikarbeiter begonnenes Unternehmen». [9] Die Arbeit in der Fabrik ist sehr schwer zu ertragen. Sogar Parteigutachter Bossard anerkennt: Die Arbeiter müssten «Tag für Tag in geschlossenen Räumen, oft bei übermässig hoher Temperatur, wo nicht nur Ausathmung und Ausdünstung der Menschen, sondern auch die zur Industrie verwendbaren Stoffe die Luft verschlechtern», hart arbeiten. [10] Die Arbeitszeit beträgt gemäss Bossard 13 Stunden pro Tag, der Taglohn für heranwachsenden Zöglinge zwischen 50 Rappen und 1 Franken 60. [11] Das ergibt einen Stundenlohn von 3,8 bis 12,3 Rappen – wobei den Kindern für Kost und Logis pro Woche noch 4 Franken abgezogen wird. Das heisst: Anfänger mit 50 Rappen Taglohn landen im Minus; Fortgeschrittene können einen kleinen Betrag ansparen. Bossards Fazit ist eindeutig positiv: «Was hier möglich ist, sollte es nicht über all in der Schweiz, wo Fabriken bestehen, auch möglich sein?»

1873 An der Versammlung der Hilfsgesellschaft berichtet Pfarrer Stadlin, dass die Anstalt jährlich einen Gewinn von 300 Franken abwerfe. Weil die Arbeitsanstalt «ganz überfüllt ist», beschliesst die Gesellschaft, eine weitere Liegenschaft für 14’500 Franken zu erwerben. Damit finden weitere 20 Zöglinge Platz und Unterkunft. Der Zeitungsberichterstatter zeigt sich sehr angetan vom Wirken des Kinderarbeitsheims: «Diese Anstalt hat den Zweck, die jugendlichen Fabrikarbeiter zu sittlich religiösen und sparsamen Arbeitern heranzubilden. (…) Wir sind überzeugt, dass Alle, welche ein Herz für die armen Fabrikkinder haben, mit uns in Anerkennung der Verdienste, dieser edlen Menschenfreunde übereinstimmen.» [12]

1877 Das eidgenössische Fabrikgesetz regelt erstmals auf nationaler Ebene die Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Es verbietet die Kinderarbeit. Die Weberei und Weberei Hagendorn gibt an, fortan nur noch Kinder ab dem 14. Lebensjahr zu beschäftigen und ausserdem nicht mehr als 11 Stunden pro Tag. [13]

1888 Am 19. August wird die ganze Fabrik in einer Nacht durch einen Brand zerstört: 13 Feuerwehrkorps versuchen vergeblich zu löschen. 360 bis 370 Arbeiter sind auf einen Schlag arbeitslos. «Es war herzzerreissend, diese weinenden Männer, Frauen und Kinder bei den Ruinen ihrer Arbeitsstätte stehen zu sehen.» [14] Die Hoffnungen auf einen Wiederaufbau der Spinnerei und Weberei sind vergebens. Was mit den Kindern der Kinderarbeitsanstalt geschehen soll, ist unklar.

1889 Papierfabrikant Carl Vogel-von Meiss (1850–1911) kauft alle Liegenschaften der Spinnerei und Weberei, also auch die Kinderarbeitsanstalt. [15] Statt die Kinder in der Fabrik zu beschäftigen, macht er aus der Anstalt das erste Waisenhaus von Cham. [16] Die Kinder können auch die Schule besuchen. Dieser Umbruch könnte auch damit zusammenhängen, dass Carl Vogel-von Meiss als Vater von vier (Klein-)kindern ein neuartiges Verständnis von Kindheit hat.

Die Bürgergemeinde Cham schickt fortan armengenössige Kinder «zur Pflege und Erziehung» nach Hagendorn, darüber hinaus sollen aber auch Kinder aus entfernteren Gegenden Aufnahme finden. Betreut werden sie weiterhin von Menzinger Schwestern. [17]

Regula Wildhaber (1862–1947) ist Kandidatin bei den Menzinger Schwestern, lässt sich zur Arbeitslehrerin ausbilden und wird von Oberin Aurelia ins «Kinder-Erziehungsheim Hagendorn» entsandt. Während 40 Jahren bleibt Schwester Regula Oberin der Kinderanstalt. Daneben wirkt sie als Arbeitslehrerin an den Hagendorner Schulen. [18]

1890 Schwester Clara Schibli verlässt Hagendorn nach 25 Jahren und übernimmt in Zug die Leitung des Arbeiterinnenheims Loreto. Dort sind rund 20 junge Frauen untergebracht, die in der Metallwarenfabrik an der Baarerstrasse und in der Zigarrenfabrik an der Ägeristrasse arbeiten. [19]

1896 Wurde die Kinderarbeitsanstalt während ihres Bestehens stets gelobt, kommen nun auch andere Ansichten an die Öffentlichkeit. Kritisch äussern sich nun erstmals die Zuger Nachrichten, die Zeitung der Katholisch-Konservativen: «Aber siehe da, wo ehedem der Kapitalismus sein egoistisches Wesen trieb, da hat sich die christliche Charitas einen Tempel erbaut und zwar einen Tempel so recht des frischen und fröhlichen Lebens. (…) Ein hochherziger Protestant überliess das Gebäude, das hübsche, grosse, fensterreiche, und Schwestern vom berühmten Institute Menzingen leiten die junge Anstalt. Und wie gut sind die Kleinen da aufgehoben.» [20]

1904 Gemäss einer Erhebung arbeiten noch immer rund 300'000 Kinder in zwölf Schweizer Kantonen, vor allem in der Landwirtschaft und Heimarbeit als Verdingkinder. [21]

1908 Beim Neubau des Schulhauses ist Regula Wildhaber als Schwesteroberin an leitender Stelle dabei. Das Schulhaus ist mit einer hölzernen Passarelle mit dem alten Kinderheim verbunden. [22]

1923 Gemäss offizieller Angabe ist die Erziehungsanstalt Hagendorn für «arme, verwaiste und sittlich gefährdete Kinder beiderlei Geschlechts». [23] Erst das Bundesgesetz «über Beschäftigung der Jugendlichen und weiblichen Personen» verbietet die Kinderarbeit entgültig. [24]

1933 Die Papierfabrik Cham schenkt das Waisenhaus der neu gegründeten «Stiftung Erziehungsanstalt Hagendorn». [25] Damit wird der Grundstein für das «Heilpädagogische Zentrum Hagendorn» gelegt.


Plan der Fabrikanlage

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Plan der Fabrikanlage in Hagendorn, 1886


Einzelnachweise

  1. Grünenfelder, Josef, Die Kunstdenkmäler des Kantons Zug, Neue Ausgabe, Bd. 2, Die ehemaligen Vogteien der Stadt Zug, Bern 2006, S. 273
  2. Horat, Heinz, Hagendorn, ehemalige Spinnerei und Weberei [Kurzbericht], in: Tugium 17, 2001, S. 20
  3. Zuger Zeitung, 01.12.2017
  4. Morosoli, Renato, Kinder in der Spinnerei, in: Personalziitig 57, 2002, S. 19
  5. Vgl. Anmerkung 1 (Grünenfelder), S. 161
  6. Weber, Anton, Die öffentlichen und privaten Wohlthätigkeits-Anstalten des Kantons Zug, in: Neujahrsblatt der Hülfsgesellschaft in Zürich 92, 1892, S. 43
  7. Industriepfad Lorze, Schautafel «Von der Kinderarbeit zur Sonderschule», 1995
  8. Bossard, Georg, Die Arbeiterfrage. Bericht über die Arbeiter-Anstalt im Hagendorn in Verbindung mit der Spinnerei im Hagendorn in Cham, Luzern 1869, S. 3
  9. Vgl. Anmerkung 8 (Bossard), S. 5
  10. Vgl. Anmerkung 8 (Bossard), S. 15
  11. Vgl. Anmerkung 8 (Bossard), S. 12
  12. Neue Zuger Zeitung, 26.03.1873
  13. Industriepfad Lorze, Schautafel «Von der Kinderarbeit zur Sonderschule», 1995
  14. Zuger Volksblatt, 22.08.1888
  15. Neue Zuger Zeitung, 16.03.1889
  16. Orsouw, Michael van, Der Zellstoff, auf dem die Träume sind. 350 Jahre Papieri Cham, Cham 2007, S. 50
  17. Zuger Nachrichten, 31.07.1889
  18. Zuger Nachrichten, 03.11.1947
  19. Vgl. Anmerkung 6 (Weber), S. 43
  20. Zuger Nachrichten, 11.11.1896
  21. Gull, Thomas, «Kinderarbeit», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013909/2015-03-09/ [Stand: 22.05.2019]
  22. Vgl. Anmerkung 1 (Grünenfelder), S. 161
  23. Archiv für das schweizerische Unterrichtswesen, Kanton Zug, Band 9, 1923, S. 61
  24. Industriepfad Lorze, Schautafel «Von der Kinderarbeit zur Sonderschule», 1995
  25. Vgl. Anmerkung 16 (van Orsouw), S. 50